Paul Wildfleisch, hellsehend

Übersetzt von Gerald Ridder, aus EDIT Nr. 51 (Leipzig, 2010). Zuerst veröffentlicht auf Niederländisch in nY #2, 2009. Bild: C.C. Krijgelmans in Brüssel, 2009.

 

 

 


(Fragment aus einem noch unvollendeten Roman)

Sein reizend Üppiges. Sie strahlte Sorglosigkeit aus und lag ausgestreckt auf dem Sofa, unerschütterlich sinnlich in nackter Empfänglichkeit. Ihr Kopf steckte umgekehrt auf ihrem Körper, das Kinn gegen den Rücken gedrückt, über einem sich flach neigenden, einem schier endlosen Kanal und einer perfiden Rutschbahn für sein orgastisches Streben.

Sie war eine durchschimmernde Lebensform, alle Organe sichtbar unter ihrer durchscheinenden Haut. Ein lebendiges Stück Unerlebendes, das synchron zu Paul Wildfleisch mitdenken konnte. An ihrem linken Bein fehlte ein Fuß, der Stumpf so glatt wie poliertes Stöhnen. An ihrem Hüftgelenk fehlte ein Bein. Ihr rechter Oberarm bildete einen rechten Winkel mit dem rechten Unterarm. Vertikal verkrampft. Und darüber ihre rechte Hand, Handgelenk und vier halb nach innen gerichtete Finger aneinander gedrückt. Ebenfalls verkrampft. Die Kuppe des Daumens berührte die Kuppe des Zeigefingers. Ihren linken Arm konnte sie frei bewegen und die noch freie, geübte linke Hand konnte sie uneifersüchtig träge auf und ab bewegen, unterstützt durch spärliches Lippenzucken, bevor der höchste Moment anbrechen sollte, zu höchster Weiblichkeit geeignet. Bis es endlich schwappend mit laut keuchendem und heftigem Ungestüm in das Gefälle unter ihrem Kinn gelangen sollte. Geronnen flüssig. Sie war ein Wesen für samtene Gebärden.

Auch war sie nach vielen Jahren der Unzucht und schäumend unehrenhaftem Vergnügen auf seiner Seite ein unentfremdbarer Teil seines Gehirns geworden, im Hinblick auf die Vollkommenheit des Missgebildeten, die Lust am Makaberen und Vorbote der Mordlust in vielen blutigen Erscheinungen. Lebensfähig und lebensgefährlich Wildfleisch-signiert war sie. Eine widersprüchliche, expressive Ausdrucksform, die er selbst immer noch erriet. Sein Gehirn hatte sie Stück für Stück sichtbar gemacht und ihr ein eigenes Dasein geschenkt. Sie war nicht mit Hilfe nackter Wollust auf glänzendem Papier konstruiert, sondern bruchstückhaft aus dem wirklichen Leben genommen worden, wie es sich ziellos um ihn herum abspielte. So hatte er sie in seinem Gehirn versteckt, immer wieder umgewühlt und ausgegraben und wieder in die Wirklichkeit hineingestoßen. Die fehlenden Körperteile konnte er, wenn sie es wünschte, hier und dort herausscharren, um ihren maßlosen Leib damit zu schmücken und zu vollenden.

Der Klang ihrer Stimme bestand aus einer Kombination von vielen Frauenstimmen, die sein Gehör an unsagbaren Orten erfreut hatten, roh knurrend, leise, gellend, flehend, lispelnd oder grausend vor Schmerz und Genuss seinen ganzen Körper durchstöhnend. Und auch dabei der beinahe unhörbar zischenlde Verrat und das unsichere Gestammel von Unsinnigkeiten. Einmal hatte ihr Sprechen sich wie ein Ta-ta-ta angehört, was ihn noch stolzer auf dieses pervers geschaffene Wesen gemacht hatte, dessen Ende er kaum vermuten konnte, so unschlüssig wie er war, ob er sie im Laufe der Zeit in ein taubstummes Gerippe, eine Vogelscheuche in einer öden Stadtlandschaft oder in einen Haufen zerquetschter Organe auf einer Müllkippe verändern sollte.

Dann, nach vielen frustrierenden Monaten, nachdem er ihren verkrüppelten Körper geschaffen hatte und ihre ersten schmalen Worte in seinen Ohren klangen, hatte er sie gefragt, woher sie gekommen war. Aus dem Nichts, hatte sie geantwortet. Was für ein erstaunliches Wort für jemanden, der noch so jung war und sich so dicht bei seinem Schöpfer befand. Ja, sie war eine echte Wildfleisch. Auch ein Etwas aus dem Nichts. Und was für ein Etwas. Ein nichtiges, hitziges Etwas. Sie hatte ihre Herkunft immer hartnäckig behauptet. Als hinge sein Leben davon ab. Was für ein wirklich urkomisch verstümmeltes, mit einem hervorragenden und vielversprechenden, aber doch immer noch naiv niedermenschlichen Gespür für Humor war sie doch geworden! Sie lachte, als er ihr erzählte, dass jemand auf den Hintern gefallen oder mit dem Fahrrad kopfüber unter eine dröhnende Straßenbahn geraten war. Weiter nichts als ein weiterer Kadaver, nackt mit Kleiderfetzen auf der Straße.

Einige Wochen später hatte sie ihn in einem übergeilen Anfall angefleht, mit einem Messer eine ihrer Wangen zu durchbohren und sie in ihrem blutigen Atem zu nehmen. In das geschundene Fleisch. So, mit ihrem umgekehrten Kopf und dem Handgelenk zu ihm hingedreht und seine graue Schliere Abfließendes in der Fahrrinne ihrer durchbohrten Wange, die Zunge durch die fiebrige Wunde gleitend und gierig schmierend und heftig mit der verkrampften Hand wedelnd. Wer hätte jemals eine solche Bitte erdacht und sie Wildfleisch sofort ausführen lassen? So blutgescheit war sie. Ja, sie hatte wahrhaftig einen eigenen Willen: Ein paar Tage später folgte eine zweite Bitte. Fort mit ihrem linken Augapfeligen. Brich urschmerzlich ein. Dieser neue Befehl würde ihr erlauben, das Ungeschändete äugig mit einem ungewöhnlichen Fest zu bedenken, so intim nahe bei der Vergewaltigung ihres Gehirns, denn sie war sehr lernbegierig, wollte alles mitmachen und mitbeäugen. Aber dieses Erwünschte lehnte Wildfleisch ab. Es bliebe nichts mehr ganz an seiner Liebsten, wenn sie so weitermachte. Und das wollte sie, darüber hinaus noch am selben Tag. Sie wollte ein einziger großer absurder Hautsack werden, um ihm Gelegenheit zu geben, sich an ihren Eingeweiden zu vergnügen. Schwüles Blut.

Aber was für eine Mischung aus aufblühenden Exotismus und düsterer Wollust hatte Wildfleisch da geschaffen! Wie konnte er jemals, nach Monaten intensiver und besonnener Anstrengung mit all seiner Findigkeit im Balancieren jenen bahnbrechenden Moment ihrer prachtvollen Geburt in seinem Gehirn tilgen, als besäße er kein bedeutungsvolles Zeichen? Noch zu schweigen von all den erregenden Durchdonnerungen, die immer noch durch seinen Kopf wüteten.

Aber was ist nun mit ihrem kriminell Absichtlichen und absolut Verantwortungslosen? sagte eine Stimme, die aus dem Blauflüchtigen kam? Was? Was höre ich da? Ein krimineller Herr? Ach, mach dir keine Gedanken. Du meinst sicher ihre ungehörigen Nöte und ihr kunstartig Eingestelltes. Achte auf deine Wörtlein und halse ihr kein lächerliches Gewissen auf, Herr Kriminell. Und Wildfleisch am besten auch nicht. Und drehe ihm kein Schuldgefühl für dieses eher schickliche Sexualverhalten an. Sprich nicht mit ihm über die sogenannten Fleischeslüste und ihre wohlüberlegten Nebeneffekte wie kontranatritürliche Verüblichkeiten oder gar Verbrechlichkeiten gegen das Menschdümmliche um Penis’ willen. Du ähnelst geradezu dem vernärrischten Autörlein, das aus allem Holz Textilien und senile Sektilien macht. Halte dich bedeckt. So funktioniert das Hirn von Wildfleisch nicht, obwohl er genau weiß, dass nicht mehr viel Zeit bleibt bevor bald dieses siedend innerlich Geräumige entmannt werden wird, alle Synapsen, Neuronen und ihre gesamte dynamische strukturelle Ordnung unter einem bösartigen Verleumdungsscan. Sei genau darauf bedacht, Wildfleisch, und sei auf der Hut.

Und nun wieder da, weg von dem üblen Gedanken und sich sogleich genau des unvermindert ethnisch Wühligen bewusst, das ständig näher kommt. Mein Inneres erzählte ihm, dass er nahezu bereit war, an dem Blutbad in der Stadt teilzunehmen.

Sein Muskeliges spannte sich bei jedem Granat- oder Mörsereinschlag in der Nähe seiner kubiklichen Wohnung an. Sein Köpfiges von feurig Flammendem umringt. Während er das Losbrechende kleiner Geschütze segnete und sich hastig mit dem Kreuz bezeichnete, konnte er sich alles lebhaft vorstellen und gewalttätig daran teilnehmen, fluchig und tobend aus seinem Sessel springend, mit geballten Fäusten um sich herum in die Leere schlagend. Und er winkte mit ausgestreckten Armen. Als würde er die mordlustig Anfallenden einladen und ihnen beistehen, dieser unverzeihliche Fanatismus gegenüber unbewaffneten Männlichen, Weiblichen und Kindigkeiten in den Elendsvierteln, gepaart mit blutigem Beil- und Messeranschlag. Dies war Leib-an-Leib-Gewalt, die nichts und niemanden schonte. Der Schnitter, der Groß und Klein fachmännisch umbrachte. Gottherrs Hammer sauste herunter, ohne Pardon, links und rechts. Dies war rasende Hammerzeit. Gottherr war rassisch und ethnisch impliziert. Recht ist geschehen, tobte Wildfleisch und ging zum Sofa, wo sein Liebstes nun auf das Manna des Himmels und die Segnung seines frenetischen Ausbruchs wartete. Aber er hielt die wachsende Erregung in seinem Unterleib nicht länger aus. Erledige sie, schrie er, bring sie allesamt um! Sein Unterleib brach auf. Erledigt?

Seine Liebste versuchte sich unbeholfen aufzurichten. Sie kehrte ihren Rücken und umgekehrt Köpfiges zu ihm und sah dann ungemein scharf auf seine schleimige Spur auf dem Boden und auf seinen Schuhen. Ja, so war es dann wohl da. Wildfleischs Männlichkeit hatte einen Sturzflug gemacht.

Was treibst du nur mit mir? kreischte sie. Und was ist mit mir? Wo bleibt mein Anteil?

Jeder kann es offen und bloß sehen, sagte er. Was übrigens hatte sie erwartet? Sie konnte sich doch selbst bedienen. Lag da etwa keine Rohkost, die sie einsammeln konnte?

Das will ich nicht, sagte sie. Und wieder schaute sie auf seinen männlichen Freudenausfluss auf dem Boden und den Schuhen. Wurde von ihm erwartet, dass er alles noch einmal von vorne machen würde? Sollte sie lieber tollmollig herumkriechen. Auf keinen Fall wollte Wildfleisch noch einmal damit anfangen.

Mein Liebster, sagte sie. Was? Doch noch einmal von vorn? Jetzt? Gottverdammt, sagte er aber er liebte sie.

Ich liebe dich, sagte er. Und das war die beste Kombination aus Selbstrespekt, Selbstsucht und Kunstfertigkeit, die er in diesem Moment zeigen konnte. Und sie schwieg, mit keuschem Verständnis, voll herantastender Zärtlichkeit. Sie kroch wieder auf das Sofa zurück. Alles in seinem Zimmer kam wieder zur Ruhe. Es schien, als hätten sie sich unwesenhaft gegenseitig in stilles Schweigen gehüllt. Dann ließ er seine Geliebte verschwinden.

Übersetzung © Gerald Ridder, Leipzig

C.C. Krijgelmans (1934, Aalst, Belgien) lebt und arbeitet in den USA. Zuletzt erschienen: Tandafslag (Erzählungen, 2007, het balanseer), und Patogeen Halogeen (Erzählungen, 2009, het balanseer).